Marians Geschichte (c) by M. Radlow

Marian ist 23, sie lebt noch bei ihren Eltern.

Sie ist gerade fertig mit der Ausbildung zur Pflegefachkraft, als sich ihre Eltern trennen.

Da sie zu beiden ein inniges Verhältnis hat, steht sie zwischen den Stühlen.

Ist hin und her gerissen zu beiden Seiten, will es allen recht machen.

Der Vater ist oft auf Geschäftsreisen, ihre Mutter arbeitet Vollzeit in einem Sozialberuf, auch in der Nachtbereitschaft.

Ihre Schwester ist keine zwei Jahre älter und beginnt mit ihrem Freund eine eigene Familie aufzubauen.

Doch Marian ist alleine mit ihrem Kummer und Schmerz.

An ihrem 18. Geburtstag wurde sie bereits von ihrer besten Freundin versetzt.

Im Teenager alter verlor sie bereits Opa und Oma. Wobei der Verlust der Oma für sie der größere war.

Es folgt eine Zeit voller Selbstzweifel, Angst und Hass auf sich selbst und auf ihre Peiniger. In der Schule war sie stets Hänseleien der Mitschüler ausgeliefert. Sie überspielte die Seelenschmerzen mit dem aufsetzen einer „fröhlichen Maske“.

In den einsamen Abenden alleine zu Hause beginnt sie ihre Wut, ihre Angst, ihre Selbstzweifel und ihre Seelenpein mit Tagebuch schreiben zu kompensieren.

Doch irgendwann reicht dies nicht mehr aus.

Sie beginnt sich zu ritzen.

Das SVV (Selbstverletzendeverhalten) nimmt zu und wird zum Ritual. Das Tagebuch füllt sich mit roten Seiten.

Ihre Seele erhält nur kurz die Erleichterung, doch der Druck kommt all abendlich wieder.

Zu der Musik von den Backstreet Boys und „Show me the meaning“ werden es mehr Schnitte und tiefere.

Da ihre Eltern sich einvernehmlich Scheiden lassen, lässt die Qual nach und Marian beendet fast schlagartig das SVV.

Gute 15 Jahre später trennt sich Marian von ihrem Freund, mit dem sie fast 8 Jahre zusammen war. Jedoch lebte sie nicht mit ihm zusammen. Dass er ihr die Schlüssel nicht zurück gibt, wirft die 33 schwer zurück.

Wieder überkommen sie die Selbstzweifel, die Angst und der Selbsthass.

Sie kann nicht darüber reden, denn immer wenn sie beginnt, baut sich eine Mauer vor ihr auf.

Auch ihre Freunde merken, dass etwas mit ihr nicht stimmt.

Auf die Frage von einem Freund „Was hast du denn da für ein Pflaster“ kann sie nicht antworten und schaut ihn nur mit ihren großen Augen an.

Die Maske scheint zu bröckeln. Löst sich allmählich auf.

Wieder die Schnitte, die ihr für kurze Zeit die Probleme vergessen lassen. Ihre Ängste nehmen.

Und wieder dieser Selbsthass, dass sie nicht sprechen kann. Nicht sagen kann was sie denkt und fühlt…was sie bewegt.

Die Angst vor dem Alleinsein, ab- und ausgestoßen zu werden.

Die Angst geliebte Menschen zu verlieren, zu denen sie vertrauen hat, die sie so nehmen wie sie ist.

Der Hass, über sich selber, ihre Krankheit und ihren Körper.

Den Hass über die Ungerechtigkeiten dieser Welt, das ist zu viel für sie.

Den Hass über vergangene Hänseleien und nicht verstanden Werdens.

Die Selbstzweifel, alles allen und jeden recht zu machen. Kann ich das, fragt sie sich sehr oft.

Ihre Worte über sich selber Spiegeln ihre Seele wieder. Voller Selbstzweifel und Versagens ängste.

Ihr Körper bildet dazu die Sprache. Die Naben schreien förmlich nach Zärtlichkeit.

Sie sehnt sich nach Frieden für sich und Ihren Körper, findet aber nur eine einsame Leere.

Alleinsein ist Horror für sie. Zeit zum nachdenken, zum grübeln und zum…ritzen.

Sie versucht sich wieder zu öffnen, sich mitzuteilen… und wieder diese Blockade.

Und fast sie dann ihren Mut zusammen, kommt etwas dazwischen. Auf einmal sind wieder viele Leute um sie herum, dass die Mauer wieder kommt.

Sie hat nur noch Angst, als Verrückt abgestempelt zu werden. Ihren letzten sozialen Halt zu verlieren. Die letzten Menschen, die ihr wichtig sind.

Ein Freund gibt ihr den Rat sich abzulenken. Eine gute Idee an sich, doch so in den Selbstzweifeln und Ängsten gefangen, erhöht sich der Druck nur auf sie und sie ritzt sich erneut.

Diesmal offensichtlicher, tiefer und mit einem Wort „HATE“.

Zum ersten Mal seit langer Zeit weint sie laut und hemmungslos.

Trotzdem bleibt die Angst, die Selbstzweifel und die Wut.

Sie kann sie einfach nicht kompensieren. Kann sie nicht nach außen bringen.

Marian nimmt sich wieder vor dem schlafen vor, es morgen ihren Freunden zu sagen….doch wird sie es diesmal halten?

Schafft es Marian, die Wand des Schweigens zum einstürzen zu bringen?

Die Maske vor ihren Freunden abzulegen?

Die Zeichen ihrer Seelenpein zu zeigen?

Sich ihre Wunden von anderen versorgen zu lassen?

Die Hilfe anzunehmen, die sie so dringend benötigt?

Oder wird sie wieder am Abend alleine zu Hause sitzen und sich nicht ablenken können?

Kommen die Selbstzweifel, der Hass, die Wut und die Angst wieder?

Marian hat sich ihren engsten Freunden und Bekannten anvertraut.

Bei den meisten fühlt sie sich verstanden. Es gibt aber welche, wo sie Angst hat, dass es sie selber wieder zum ritzen bringen könnte,

Sie fühlt sich schuldig, wünschte sich, den Schritt der Offenbarung nicht gemacht zu haben. Doch nun gibt es kein Zurück.

Marian wird sich Hilfe holen.

Sie hat große Angst davor, möchte sich nur noch verkriechen.

Letzte Nacht hat sie zwar schon wieder besser geschlafen, doch wurde dieser unterbrochen von Selbstzweifel, innere Wut und Angst.

Wieder nutzten die Skills nichts. Sie hat sich alle Ritzer wieder geöffnet und zusätzliche geschaffen. Die Cuts übersehen nun nicht nur die Unterarme sondern auch die Oberschenkel.

Sie ist verzweifelt. Möchte mit jemand Reden. Aber anstatt direkt zu fragen, druckst sie rum.

Der, der momentan die größte Stütze sein könnte, weist sie zurück. Sie fühlt sich zurück gestoßen. Die Wut auf ihn steigt ins unermessliche. Sie sagt sich, er kann es nicht zu nah an sich ran lassen. Er hat es selber mal gemacht, hatte BPS. Er sagt zwar Erzählen und Erinnern sind zwar zwei Paar Schuhe, aber sie verschwimmen stark miteinander.

Sie will ihn auch nicht nerven, ist hin und her gerissen von ihren Gefühlen…reines Chaos in ihrem Kopf…der Druck wäscht wieder.

Angst vor dem Leben…

Angst vor Abweisungen…

Selbstzweifel, Selbsthass, Verlustängste….

Einfach eine Leere in sich…sich ins sich selbst zu verlieren…!

Sich nicht richtig spüren können!

Sie isst nicht mehr richtig und schläft nur noch wenig!

Nun wartet sie auf einen Therapieplatz und hofft, dass sie bis dahin nicht die letzten „Freunde“ vergrault hat mit ihrer Impulsivität.

Ihre Stimmungsschwankungen nehmen zu.

Immer wieder verletzt sie jemanden mit Worten, die sie nicht so meinte.

Hinterher steigt der Selbsthass darüber wieder.

Sie will nähe spüren, doch zu viel erdrückt sie auch.

Marian ist einfach nur noch verzweifelt….

Der Zug Unfall (c) by M. Radlow

Es ist das Jahr 1994, als die 15 jährige Marie mit ihrem 13 jährigen Freund Jan von einer Halloweenparty mit der Regionalbahn nach Hause fuhren.

Sie saßen noch in ihren Kostümen verkleidet im Wagon hinter der Diesellok. Marie war als Vampgirl und Jan als Dracula gegangen. Sie lachten und scherzten über den schönen Abend. Hin und wieder küssten sie sich dabei zärtlich.

Nach dem letzten Halt fuhr die Bahn durch teilweise ländliche Gegend. Links und rechts der Gleise ein paar Bauernhöfe, irgendwann kam eine Brücke, um eine Ortschaft zu verbinden. Kurz vor der Brücke passierte es dann…

Ein lautes Getöse, die Bahn fing an zu schlingern, zu wanken und knallte dann mit der Lok voran in den Brückenpfeiler.

Man hörte das Geschrei der Menschen aus allen der vier Waggons, als sich einer gegen den anderen, aufeinander und ineinander schob.

Ein Teil der Brücke brach über den Waggons zusammen und begrub sie mit Tonnen von Schutt und Staub.

Und schlagartig herrscht Stille…

Marie kam langsam zu sich. Ein Rinnsal warmes Blut lief ihr über die Wange. Die Hand, die sie zum Kopf hob, schmerzte stark und sah nur noch unförmig aus. Vorsichtig tastete sie trotzdem ihren Kopf ab und entdeckte schnell die blutende Wunde an ihrer Stirn. Sie sah ihre blutige Hand an und versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken.

Ihr nächster Gedanke galt Jan. Sie rief nach ihm, aber sie hörte ihre Stimme nur durch einen dröhnen in ihrem Kopf. Dann regte sich was neben ihr. Vorsichtig versuchte sich Marie zu ihm zu bewegen. Ein betäubender Schmerz zog von ihrem linken Bein bis in den Kopf.

Ruckartig zog sie sich nun aus den Trümmern in den kleinen Zwischengang, der hier zwei Personenbreit einen Hohlraum bildete. Sie schaute auf ihr Bein hinab und hätte beinahe aufgeschrien. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie den Rest ihres Umhanges zerrieß und ihr abgetrenntes Bein damit abband. Tief durchatmend bekämpfte sie erneut die Panik und den Schmerz und wand sich wieder Jan zu.

Er hat die Hand gehoben, also lebt er noch, dachte sie.

Jan lag in einem Hohlraum zwischen mehreren zusammen gedrückten Bänken und hatte die Augen geschlossen. Er atmete sehr unregelmäßig. Marie schob sich zu ihm vor und sprach ihn an. Berührte ihn mit ihrer Blutverschmierten Hand. Er öffnete mit einem stöhnen die Augen. Seine Lippen formten die Worte „Ich liebe dich“!

Vielleicht hatt er es auch laut gesagt, Marie hörte immer noch nichts, außer ihrem wildpochenden Herzen.

Trotz ihrer eigenen Schmerzen tastete sie ihn vorsichtig ab.

Marie hatte sehr gute Erste Hilfe Kenntnisse, da sie sich schon sehr lange mit dem Thema beschäftigte. Sie hat dutzende Fachbücher für Notfallmedizin verschlungen und wollte nach der Schule eine Ausbildung zur Krankenschwester machen. Das kam ihr in diesem Moment zu gute.

Schnell stellte sie fest, dass er mehrere Knochenbrüche an den Beinen haben musste. Auch sein Brustkorb schien instabil durch eine Serienrippenfraktur zu sein. Und an seinem Kopf entdeckte sie eine Platzwunde.

Wo sind nur ihre Taschen geblieben, fragte sie sich, als sie sie in einem Knäul Metall entdeckte. Sie zog sie raus und holte ihre Erste Hilfe Tasche hervor.

Zuerst versorgte sie seine Platzwunde, dann versuchte sie so gut es ging, dass Bein zu schienen. Hierfür nahm sie einige abgebrochene Gepäckstangen und fixierte sie mit dem Resten ihres Umhanges.

Auch die Schnittwunden an den Händen und Armen, durch die umher wirbelnden Fensterscheiben, versuchte sie so gut es ging zu verbinden.

Dann flüsterte sie ihm zu, dass alles gut werden würde. Sein Blick wanderte von ihrem zerzausten Haar, über das blutverschmierte Gesicht zu ihrer Hand und dann zu ihrem Beinstumpf.

Jan formte die Worte „Du hast viel größere Schmerzen als ich, wie kannst du da sagen, dass alles wieder gut wird?“ Zum Ende hin konnte sie die Worte wieder dumpf hören. Gut, nur ein Knalltrauma dachte sie sich.

Marie deckte den Beinstumpf ab und verband sich dann ihre Hand.

So musste Jan es nicht immer sehen, dachte sie.

Jan fragte sie, wie lange sie schon hier drinnen seien. Marie zuckte mit den Schultern, wieder schoss ein Schmerz durch ihren Körper.

Sie suchte in seiner Hose nach seinem Handy und fand es schnell.

Sie schaute drauf und teilte ihm mit, dass es Viertel nach Neun sei. Um viertel vor Neun sollten sie an ihrem Zielbahnhof angekommen sein. Also waren sie schon mehr als 30 Minuten in dem Zug eingeschlossen.

Nun kam Marie eine Idee, sie wählte die 112.

Die Rettungsleitstelle meldete sich auch gleich. Gut dachte Marie, sie haben zumindest Empfang.

Sie teilte dem Disponenten mit, was passiert war und das sie die anderen Menschen nur weit entfernt hören könne.

Marie merkte, dass ihr Gegenüber am Telefon kurz schlucken musste! Dann sagte er ihr, dass Hilfe unterwegs sei und fragte sie noch, in welchen Waggon sie saßen, als das Unglück passierte. Sie teilte es ihm mit und meinte dann noch, dass es ihrem Freund schlecht ginge. Er versuchte sie zu beruhigen, doch das kam kaum bei ihr an, den in diesem Moment gab es erneut ein gepolter und ächzen zu hören.

Ein weiteres Teil der Brücke hatte sich gelöst und war runter gekracht.

Marie hörte den Disponenten fragen, ob bei ihnen alles okay sei und Marie meinte ja.

Nun sah sie, dass der Akku fast leer war und teilte dies dem Disponenten mit. Dieser meinte dann, das es gut sei und er sie anruft, wenn er noch Fragen hätte. Marie legte auf.

Zärtlich streichelte sie Jans Gesicht, er lächelte sie schwach an. Marie merkte, dass seine Lebensflamme nach und nach verblasste und flüsterte ihn immer wieder zu, dass er durchhalten solle, müsse.

Marie holte noch eine Rettungsdecke aus ihrer Tasche und legte sie über Jan. Sie selber legte sich neben ihn, da sie nun auch begonnen hatte zu frieren.

Sie fühlte sich so müde und schlief ein.

Nach wenigen Minuten, so dachte sie zumindest, wurde ihr Schlaf durch Lärm unterbrochen.

Sie schüttelte Jan und meinte zu ihm, dass nun Hilfe da sei.

Er reagierte nicht. Marie überprüfte seine Atmung…nichts.

Sie begann sofort mit der Herzdruckmassage, obwohl sie selber Schmerzen hatte.

Marie wollte nicht aufgeben, ihren Freund nicht verlieren. Sie kämpfte gegen sich, ihre Schmerzen und ihre Panik an. Ohne es zu wissen sind doch schon einige Stunden vergangen, der Tag graute bereits, als sie plötzlich einen Lichtschein von oben wahrnahm.

Die Rettungskräfte holten zuerst Jan raus und dann Marie.

Völlig entkräftet fiel sie einem der Rettungsassistenten in die Arme.

Dieser hob sie mit seinem Kollegen auf die Trage und sie wurde zum Behandlungsplatz gebracht.

Kurz öffnete sie die Augen und sah, dass sich etliche Kräfte um Jan kümmerten.

Dann sah sie eine schwarze Krähe aufsteigen…

Ein leiser Schrei entschlich sich ihrer Kehle und blieb mit erstickten Tränen dort stecken.

In diesem Moment wusste sie, dass Jan den Kampf aufgegeben hatte und von ihr gegangen war.

Sie schloss die Augen…